"Das Tagebuch", von Thomas Franke
Obwohl ich in manchen Büchern die typisch christlichen Dialoge eher überfliege, finde ich sie in diesem Buch ziemlich ansprechend.
Ein Archäologe findet bei Ausgrabungen ein Tagebuch aus dem 17. Jahrhundert, von einer Frau, die in der Burg, im Bereich deren Ruine die Ausgrabungen stattfinden.
Auf mysteriöse Weise gerät der Mann mit der Tagebuchschreiberin über die Zeitschwelle hinweg in einen Dialog.
Heute fand ich dann einen Text, den ich zu dem altbekannten Dauerbrenner der Frage nach dem Leid sehr ansprechend finde. Ich zitiere mal einen Abschnitt aus Seite 288
"Was meinst du, wenn du von der „Summe allen Leides“
sprichst? Können wir Leid addieren wie Goldmünzen oder Brotlaibe? Ich habe
nicht das Gefühl, dass mich dies der Tiefe des Schmerzes näherbringt. Spürst
nicht auch du das tiefste Leid, wenn die Menschen, die du liebst, davon
betroffen sind?
In der Begegnung mit einzelnen Menschen komme ich dem Leid
am nächsten. Und manchmal habe ich eine Ahnung, dass all dieser Schmerz nicht
immer ziellos ist. Wie du vielleicht weißt, traf ich einst einen Mann, der
furchtbar gezeichnet war. Das Feuer hatte ihm das Gesicht genommen und tiefe
Spuren in seinem Körper hinterlassen.
Aber es hatte ihn auch zum Menschen gemacht, denn zuvor war er wie eine
tollwütige Bestie gewesen, ein Fluch für Tausende von Menschen. Für mich ist er
zum Segen geworden.
Aber ich weiß aus tiefstem Herzen, dass die Antwort auf die
Frage, wozu all dieser Schmerz gut ist, nicht so einfach zu finden ist. Es
haben sich schon tausend Philosophen den Kopf darüber zermartert. Wir
versuchen, die Schatten an der Wand zu deuten, und wissen nichts von dem Licht
, das sie hervorruft.
Deshalb frage ich mich, ob es nicht im tiefsten Kern um
etwas anderes geht. Denn selbst wenn es mir gelänge, eine Antwort auf die Frage
nach dem Leid zu finden, würde das meinen Verstand vielleicht befriedigen, aber
mein Herz bliebe trotzdem einsam. Was
nützte es mir und was nützte wes anderen, wenn ich die Kuppen der Berge
beleuchtet sähe und doch in der Dunkelheit des Tals über meine eigenen Füße
stolpere? Was ich wirklich brauche, ist das Licht für den nächsten Schritt!
Wir haben dieses Trachten in uns, die ganze Welt zu
durchschauen. Und ja, wir wollen Gerechtigkeit schaffen. Aber der Ort, an dem
dies alles beginnen muss, ist unser eigenes Herz. In der Tiefe des Lebens und
des Todes sind all die Großen Gedanken über die Missstände dieser Welt mit einem
Male klein und unbedeutend. Jetzt interessiert nur eines: Worauf vertraue ich oder
besser gesagt: Wem vertraue ich?"
Anmerken möchte ich dazu noch den Hinweis zu dem Mann, den die Schreiberin erwähnt - welcher im Feuer sein Gesicht verloren hat. Der taucht nämlich auch in der Geschichte des Tagebuchs auf, als fromme Leute die Schreiberin töten wollten und dieser Mann sie gerettet hat. Der Mann betete ein dauerndes Gebet in dem Sinne: "Sei mir Sünder gnädig" und beichtete der Frau, dass er vorher haufenweise Leute umgebracht hatte und in seinem selbstgelegten Feuer sein Gesicht verloren hatte. - Hier hatte das Leid den Menschen erst zu dem Menschen gemacht, der Hilfe wurde für andere.
Interessant ist dabei für mich, dass wir heute, als ich mit meiner Tochter einer Einladung zum Kaffee bei einer älteren Frau gefolgt bin, ähnliche Ergebnisse zu diesem Thema gefunden hatten.
Bei uns ging es um die Kriege, welche unsere Eltern oder Großeltern noch erlebt haben und die jetzige Generation kaum eine Vorstellung davon hat.
Auch hatten wir festgestellt, dass die Technik und das Streben zur Perfektion sehr zugenommen hat. So wie man es sich noch vor 30 Jahren kaum vorstellen konnte. Aber im Grunde genommen kamen wir zu dem Ergebnis, dass irgendwie der Mensch dabei oft auf der Strecke bleibt. Und wenn sich das noch so weiter steigert, würde nur noch Perfektionismus herrschen.
Da fanden wir dann den Bogen dazu, was Kriege bewirken oder auch sonstige Katastrophen des Lebens. Da fällt nämlich erst einmal der ganze Perfektionismus in sich zusammen und man muss aufbauen - sich meistens ganz neu orientieren. Und irgendwie erinnerte mich das an die Geschichte vom "Turmbau zu Babel".
Kriege und Katastrophen bringen Leid. Und das mögen wir nicht. Aber sie bewirken auch etwas - in uns, in anderen, in Beteiligten und unbeteiligten Zuschauern.
Auch hier kann man keine allgemeingültige Antwort zum Leiden finden. Aber für sich selbst vielleicht schon, wenn man sich selbst mal dieser Frage stellt: Was bewirkt das Leid in mir? - Oder: Wem vertraue ich?