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Montag, 6. Januar 2020

Geschichten entwickeln sich mit den Zeiten - der Kampf um die Wahrheit


Meine Mutter erzählte uns Kindern öfter mal die Geschichte eines ihrer Brüder. Der ist trotz Verbot der Eltern auf das Eis gegangen, hat ein Loch geschlagen ... und ist darin ertrunken. Das sollte eine Warnung sein, was geschehen kann, wenn man den Eltern nicht gehorcht.

Später kam dann die Geschichte dazu, die diesen Bruder als Vorbild eines geduldigen Menschen beschreiben sollte.
Er saß wohl einmal am Tisch, mit der ganzen Familie, und murmelte die ganze Zeit vor sich hin "ich kann warten" ... weil er wohl ohnehin nicht an den Topf rangelangte, da ihn die anderen Familienmitglieder zuvor kamen.

von da an erzählte sie oft beide Geschichten zusammen - meistens am Tisch, wenn wir Geschwister uns um den Topf in der Mitte balgten :

Erst das Vorbild als Geduldiger ... und nach einer kurzen Atempause ... "und dann ist er ertrunken"

Ich kannte beide Geschichten in der getrennten Version. Aber da ich nie genau wusste, von welchem Bruder meine Mutter gerade sprach, entstand ein Bild in meinem Kopf, wo die Familie am Wasser um einen Tisch herum saß, zum essen. Und irgendwann ist der murmelnde Bruder mit seinem Stuhl umgekippt, ins Wasser gefallen - und ertrunken.

Diese Geschichte hielt sich sehr lange in meiner kindlichen Vorstellung. Und ich denke, so sind ebenfalls viele Geschichten entstanden, die als wahre Geschichten  - oder eben auch Märchen oder Sagen,  erzählt werden. Sie alle enthalten mindestens einen wahren Kern. Aber das ganze Drumherum ist geschmückt von dem, was die jeweiligen Vorstellungen einzelner Erzähler darstellte.

Wahrscheinlich erzählt jeder seine "Geschichten" so, dass sich darin ein bisschen von der Wahrheit befindet - und ein bisschen von dem, was in seiner  eigenen Vorstellung entstanden ist. Vielleicht sollten alle Erzähler genauso gnädig mit den Erzählungen anderer umgehen, wie sie es selbst von ihren Zuhörern der eigenen Geschichten erwarten.

Niemand besitzt die absolute Wahrheit.  Jeder nimmt Geschehnisse zusammen mit seinem ganz persönlichen Empfinden und seiner Erfahrung wahr. Und deshalb kann sich beim Weitererzählen so mancher Schnörkel und Kurven in einen Bericht hinein entwickeln, durch den von den Zuhörern ein ganz neues Bild entsteht, ohne dass der Berichterstatter dabei gelogen hat.

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