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Sonntag, 2. Februar 2014

Eine Zeit im Norden ca. 1964

Meine Mutter ist in Kiel geboren, mein Vater in Memel. Ich bin in NRW geboren, meine Kinder haben in Niedersachsen ihre Heimat. Also, mein familiärer Hintergrund ist reichlich bunt gemischt.
Als ich Kind war, hatten wir, falls wir mal in Urlaub fuhren, immer ein einziges Ziel: Kiel. Dort wohnten beide Großeltern und bei der Mutter meiner Mutter konnten wir auch immer eine Zeitlang Unterschlupf finden.
Im Nachhinein staune ich immer noch, auf welch engem Raum wir fröhlich miteinander ausgehalten haben. Als mein Großvater schon gestorben war, hatte meine Oma nur einen Raum als Wohn- und Schlafzimmer. Ein anderer Raum wurde von der jüngsten Tochter bewohnt, meiner Tante - die einzige, die von der Familie noch heute lebt.

Meine Oma wohnte an einer sehr verkehrsreichen Straße, der "Holtenauer Straße" in Höhe der Bus- und Bahn-Haltestelle "Belvedere". Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fuhr ein Bus bis zum Strand an der Ostsee. Oder besser gesagt, der Kieler Förde. Meine Eltern und Großeltern hatten nie ein Auto. Erst ihre Kinder hatten welche. Darum war es für uns ganz normal, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.

Als ich 13 Jahre alt war, wurde ich für ein paar Wochen (von Ostern bis zu den Sommerferien) zu meiner Oma geschickt, weil ich dort schwimmen lernen sollte, für meine Rückenprobleme. An diese Zeit habe ich mich kürzlich wieder ganz intensiv erinnert.

In der Zeit ging ich auch dort in die Schule, die "Hardenbergschule". Schwimmen lernen konnte ich ganz einfach in der Schule, weil das Fach dort regelmäßig auf dem Stundenplan stand. Dieses Fach gab es in meiner Schule zu Hause überhaupt nicht.

In der Klasse war ich natürlich in gewisser Weise ein Exot. Der eine Lehrer nannte mich manchmal "Fräulein Mettmann" ("Mettmann ist mein Heimatort). Die Kinder (gerade in die Pubertät schliddernd) schauten mich auch etwas schräg an, weil ich es doof fand, in den Pausen langweilig nur rumzustehen und zu labern über unwichtige Sachen. Ich fand, dass ich noch spielen darf in dem Alter. Eine einzige Schülerin aus meiner Klasse schloss sich mir dabei an - oder vielleicht auch ich ihr. Dieses Mädel (sie hieß "Erika") gehörte auch eher zu den Ausgeschlossenen dieser Klasse. Ansonsten hatte ich eine Freundin, die in dem gleichen Haus wie meine Oma wohnte, die sich uns anschloss. Die war zwar noch zwei Jahre jünger als wir, aber sie gehörte zu einer "Bande", die alle ungefähr in dem Alter waren. Mit ihnen bin ich  am Nachmittag gerne zwischen den Häuserblocks herumgelaufen und wir haben Spiele wie "Räuber und Gendarm" gespielt. Neben dem Wohnhaus meiner Oma gab es noch eine Ruine vom Weltkrieg. Solche gab es zu der Zeit vereinzelt noch in vielen Städten, auch in meiner Heimatstadt. Natürlich war es verboten, darin zu spielen. Aber es hat uns gereizt und manchmal war es ein gutes Versteck. Als Bande fanden wir irgendwann mal, dass wir alle einen Spitznamen haben sollten.  Jeder sollte sich einen ausdenken für sich selbst. Und weil ich Spitznamen überhaupt nicht gewohnt war, habe ich mir einfach "Brötchen" ausgesucht. (wäre ja mal ein guter Nick, wenn ich mich mal wieder irgendwo neu anmelde) ;-) Warum ich den wählte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, der war einfach sinnfrei.

In meiner Klasse war es also Erika, mit der ich mich zusammentun konnte. Und irgendwie gefiel mir dort in der Klasse der Status als Exot auch. Ich war dort viel mutiger, als ich zu Hause jemals war. Dabei erinnere ich mich an einen Tag, wo wir uns mit meiner Klasse zum Schwimmen mal wieder in der Schwimmhalle trafen. Das waren auch noch die Zeiten, wo "Perlonstrümpfe" nur für erwachsene Frauen vorgesehen waren. Aber in dem Alter gab es eben auch schon einige Mädels, die welche trugen. Bei uns zu Hause gab es so etwas überhaupt nicht. Da war meine Mutter sehr streng. Meine Oma war da ein wenig freigiebiger und hat mir oft ein paar abgelegte Perlonstrümpfe von sich gegeben. Wobei die von ihr noch ein bißchen dicker waren, als die feinen Dinger, welche von den jungen Mädels getragen wurden. Es war also nur ein Kompromiss, aber für mich schon ein ziemlich großer. Die meiste zeit, vor allem im Sommer, trug ich aber noch Söckchen. So weit ging meine Liebe zur Mode nicht, dass ich dabei schwitzen wollte.

So trafen Erika und ich also in der Schwimmhalle ein und die meisten Schüler waren schon da. Ich sehe es noch vor mir, wie sie auf einer Treppe zu einem Eingang hintereinander standen und warteten, dass die Lehrer kamen zum Einlass. Weil es ihnen wohl langweilig war, fingen ein paar von den Mädels an zu spotten über die Söckchen, welche Erika trug. Und wie es dabei oft geht, fielen gleich eine ganze Reihe Schüler mit ein. So dass wir den Eindruck hatten, alle lachen Erika aus. In dem Moment kam es (was, weiß ich nicht) über mich und ich stellte mich direkt vor die spottende Gruppe und sagte: "So, und jetzt lacht auch mal über mich. Ich habe nämlich auch Söckchen an". In dem Moment war alles still und keiner mehr hat gelacht. Und ich war stolz auf mich.

Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch ziemlich neu ein Stützkorsett für den Rücken bekommen. Ich fand es lästig. Aber meine Tante achtete sehr darauf, dass ich es auch trug. Wenn meine Oma nachgeben wollte, dass ich es mal nicht tragen bräuchte, dann hat meine Tante ihr immer vorgehalten, dass sie bei ihr auch nicht darauf geachtet hätte und nun hatte sie eine verbogene Wirbelsäule. Mir tat meine Oma dann immer leid, dass sie diese Vorwürfe ertragen musste, wo sie doch eigentlich mir nur gerne die Lage erleichtern wollte.

Wenn Schwimmen auf dem Stundenplan stand, musste ich das Korsett natürlich nicht tragen. Weil es meinen ganzen Körper einschloss, fand ich es doch etwas peinlich, wenn die Mitschüler es sehen würden, wie ich damit aussehe. Aber einmal hatte ich es vergessen, zu Hause zu lassen. Es fiel mir erst auf, als ich mich in der Schwimmhalle umziehen wollte. So sagte ich der Lehrerin, ich könne nicht mitschwimmen deswegen. Die ermunterte mich aber, das Ding einfach dort auszuziehen. Und so zog ich mich um, unter den staunenden Blicken meiner Mitschülerinnen und der Lehrerin, die dafür sorgte, dass dies richtig beurteilt wurde. Danach fand ich es nicht mehr so peinlich, dass ich das Ding tragen musste.

In der Klasse saßen wir zu viert um quadratische Tische herum. Jeder an einer Längsseite. Und ich erinnere mich, dass immer mal dafür gesorgt wurde, dass wir Plätze austauschten, nach Anweisung der Lehrer. Da hatte ich einmal dann einen Tisch, an dem außer mir nur noch drei Jungs saßen. Ich selbst hätte das mir so nie ausgesucht. Aber in dieser Konstellation habe ich zum ersten Mal entdeckt, dass ich als Mädel besondere Waffen gegen Jungs zur Verfügung hatte. Wenn mir irgendwas nicht gefiel, wie ich behandelt wurde, dann habe ich gezickt und die Jungs haben nachgegeben. Das war eine interessante Erfahrung für mich. Ich erinnere mich da noch an ein Mal, wo ich mit dem Rücken zum Lehrer saß. Dass ein Junge irgendetwas mir wegnahm. Ich glaube, ich hatte ihm vorher was weggenommen. Es war eigentlich eher ein Spiel, wo wir uns gefoppt haben. Aber der Junge wollte mir das Teil nicht wiedergeben (ich glaube, es war ein Radiergummi) und ich habe dann mal eben ein paar Tränen herausgedrückt. Worauf der sofort reagiert hat und sich entschuldigt hat, damit ich aufhöre, bevor der Lehrer etwas merkt.

Der Klassenlehrer war toll. Er hieß "Herr Rassmus". Das tolle an ihm war, dass er Klavier spielte. und zwar zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Manchmal setzte der sich einfach, während wir gerade bei irgendwelchen Aufgaben saßen,  ans Klavier und spielte ein flottes Lied. Eines davon war: "Die Gedanken sind frei". Das Lied sollte ich auch allein vorsingen, als in der offiziellen Musikstunde mal Stimmprüfung war. Mein Lehrer fand meine Stimme toll. Er sprach fast bewundernd davon, dass man das fördern sollte. Es hat mich stolz gemacht. Gefördert haben wir das ja zu Hause oft, indem wir als Familie viel zusammen gesungen haben.

Meine anderen Großeltern wohnten am anderen Ende von Kiel. Dorthin kam ich aber auch ganz gut mit der Straßenbahn, die direkt vor unserem Haus abfuhr. Das war die gleiche Linie, welche auch durch die Innenstadt fuhr. Vom Einkaufen in der Fußgängerzone aus sind wir auch mit der gleichen Bahn gefahren, nur in die andere Richtung. Einmal waren wir zusammen in der Einkaufszone und es wurde Mittag. Man forderte mich auf, schon mal voraus zu fahren und die Kartoffeln für das Mittagessen aufzusetzen. Ich bekam dazu einen Fahrausweis in die Hand gedrückt, Geld hatte ich keines. Ich nahm also die nächste Bahn und fuhr los. Merkte dummerweise aber erst ziemlich spät, dass ich in die Bahn in die falsche Richtung eingestiegen war. Da ich keinen Fahrschein für den Weg zurück hatte, fiel mir als Lösung nur der Weg zu meinen Großeltern dort an dem anderen Ende ein. Natürlich bekam ich meinen Fahrschein. Und mein Opa war da gerne auch mal ganz freigiebig und gab mir noch ein paar Pfennige extra dazu. Ich glaube, es waren 50 Pfennig. Das war viel für mich, weil ich zu Hause so gut wie nie Geld bekam. So hatte sich mein Umweg sogar gelohnt. Das Problem war allerdings, dass ich natürlich viel zu spät wieder dort ankam, wo ich die Kartoffeln aufgesetzt haben sollte. Meine Familie war schon da. Und meine Tante glaubte mir meine Geschichte einfach nicht, sondern behauptete, ich hätte das absichtlich so gemacht, um Geld vom Opa zu bekommen. Das hat mich ziemlich verletzt. Aber diese Geschichte hat mir auch das erste Mal ziemlich bewusst gemacht, dass ich keinen besonders guten Orientierungssinn habe. Wenn ich mich in fremden Orten orientieren will, dann muss ich mir ganz deutlich bestimmte Zeichen einprägen. Sonst kann es mir passieren, dass ich irgendwo in ein Gebäude reingehe. Und wenn ich rauskomme, dann gehe ich in die falsche Richtung weiter. Auch wenn ich im Geschäft oder im Zug mal aufs Klo muss, dann gehe ich erst rein, wenn ich mir genau eingeprägt habe: erst rechts, dann zweimal links und nochmal rechts .... o.ä.

Eigentlich sollte ich in Kiel ja bis zu den Herbstferien bleiben, wenn es Zwischenzeugnisse geben sollte. Aber zwischendurch, als es warm war dann mal meine Mutter mit zwei oder drei meiner kleineren Geschwister zu Besuch in Kiel. Und da hat mich das Heimweh gepackt und ich wollte nach Hause.

Ich erinnere mich aber noch gut an die nicht so große Stube meiner Oma. Darin standen zwei Sofas, die zu Betten umgearbeitet werden konnten oder es waren zwei Betten, die zu Sofas umgemodelt wurde, keine Ahnung. Das Bett, in dem ich immer geschlafen habe, war für mich gefühlsmäßig immer ein Platz, wo ich mich geborgen fühlte. Ich glaube fast, dass ich dort das erste Mal ganz bewusst Geborgenheit für mich wahrgenommen habe und genossen habe.  Lange Zeit war allein das Wort "Geborgenheit" für mich etwas, das Sehnsucht in mir hervorrief. Eine Sehnsucht nach etwas, das ich nicht wirklich haben könnte. Ich erinnere mich nur an wenige Orte, wo ich das Gefühl wieder hatte.


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